Wir haben Cyberpunk. Oder: Warum ich nicht mehr weiterschreiben kann.

(Bild: © by Oliver Wetter, von hier)

Irgendwann in den nächsten 20 Jahren möchte ich folgendes Szenario erleben: Ich sitze irgendwo oberhalb des Rhein-Main-Sprawls. Zum Beispiel an einem Waldrand, oder auch gerne im eigenen Garten. Zusammen mit einigen Robo-Pets, die zwar aussehen wir echte Hühner, innen drinnen aber viel smarter sind, als ich – einer der letzten seiner unmodifizierten Art –  es jemals sein werde. Dort sitze ich also, schreibe einen 1.200-seitigen Cyberpunk-Roman über die Liebe, über das große Ganze und über die Versprawlung der Welt. Dabei könnte dann sowas ähnliches rauskommen, wie das hier: 

Korrodiert, unbeheizt, ausgekleidet mit Styropor. Bloß weit genug weg von der Stadt. Starrende, katatonisch grün-graue Augen die unter einem rostig schimmernden, lachsfarbenen Ledermantel heraus in die bittere, düstere, Wahrhaftigkeit der Welt  schauen. Brechreiz und Metall in der Kehle. Dreck und der Geruch von altem Fisch umgibt sie. Eine technoisierte globalisierte Welt. Hart wie V2-Stahl. Wer ist sie? Wer war sie? Ihre Carbonimplantate fahren in den automatisierten Ruhemodus. Die Haut noch immer entzündet von den Einstichstellen. Ein Satz eines Pre-Singulären schießt ihr durch den modifizierten Hirnlappen: "Die Neugeborenen weinen, zu betreten die große Narrenbühne." – Woher diese Worte? Sie entsteigt ihrem Verschlag, die Augen nach vorne gerichtet. Steht auf, übergibt sich in den moderigen Geruch des Sprawls und wandelt hinaus in diese fremde Welt; der Regen, ihr trostspendender Begleiter. Ihre Tränen verwaschen; verloren auf ewig im Dunst des Morgens. Trübheit; versunken im Morast des 22. Jahrhunderts. Ächzend bewegen sich die Servos  in ihren Ellebogen, recken sich empor, zu einer Sonne, die niemals wieder aufgehen wird. 

Schön nicht? Dies waren die ersten Zeilen meines mittlerweile 66-Seiten starken Romans, den ich niemals fertig schreiben werde. 


(Bild: © by Kenneth Herstadr, von hier)

Ich möchte Euch erzählen, warum ich nicht mehr weiterschreiben kann. Es gibt einen einfachen Grund dafür: Mir fallen nicht schnell genug weitere, düstere Szenarien für eine Zukunft ein, die eigentlich gar keine Zukunft mehr ist. Das, was mich an der Cyberpunk-Literatur inspiriert und fasziniert, läuft mittlerweile stündlich im Fernsehen. Es passiert alles wirklich. Und es passiert so rasend schnell (zu schnell, wie neulich mal wieder erwähnt). Ich philosophiere über die nächste Stufe der Neo-Kolonialisierung; schaue Abends in's Internetz, und stelle fest, dass meine Fantastereien längst überholt sind; meine dunkle Zukunft 600 Kilometer weiter gerade Wirklichkeit wird. Wie soll man da noch weiter an einer fiktiven Storyline arbeiten? Da kommt doch keiner mehr mit.

…das ist alles gar nicht so dramatisch? Die Sonne scheint doch noch? Technologie und blinder Optimismus wird uns alle retten? Ich übertreibe? 

Nicht im geringsten! Zur untermauerung meiner These möchte ich Euch eben zwei Artikel empfehlen, die sich exakt mit dem Thema Warum wir schon in einem Cyberpunk-Szenario leben befassen. Anschließend macht ihr Euch ein paar Gedanken; und sagt mir dann, dass ich spinne, und die Hippies es eh nicht hätten rumreißen können. 

9 thoughts on “Wir haben Cyberpunk. Oder: Warum ich nicht mehr weiterschreiben kann.

  1. Martin says:

    Der 1. Link geht im Moment nicht "Error establishing a database connection".
    Und zu dem anderen, das ist ja bloß eine Auflistung von Attributen. Und dann auch noch eine ziemlich Allgemeine, nicht unbedingt richtige?
    Z.B. 
    * All-powerful corporations and the dominance of consumerism and market ideology.
    Allmächtige Unternehmen? Bisher hat noch keine Unternehmung ein Land übernommen und eigene Armeen aufgestellt. Korruption gab's schon immer, das ist nicht spezifisch für Cyberpunk. 
    Konsum? Gab's auch schon immer. Mit welcher Alternative wird denn da verglichen? Alle bauen ihr Zeug selber an? Das hat doch auch nix mit Cyberpunk zu tun.
    * Intense globalization
    Logische Konsequenz der Vernetzung -> wäre Teil jeder Zukunftstheorie.
    * Hi-tech soldiers
    In der gesamten menschlichen Geschichte war der Krieg ein Antreiber für Forschung. Wo ist das spezifisch?
    * Hacker wars
    Öhm..  wo? Schlägereien vielleicht.
    * Media saturation
    Logische Konsequenz des Fortschritts?
    * Environmental disasters
    Hatten schon die Dinos.. 
    * Decline in usefulness of standing armies
    Logische Konsequenz…
    * Media-aware terrorism
    Das konnte schon der Adolf..
     
     
    Und sooooo weiter….
    Also, das Ganze steht schon auf wackeligen Beinen. 
    Also, auf der einen Seite will ich dir ja nicht widersprechen, ist schon erstaunlich, wieviel Autoren vor Ewigkeiten richtig visioniert haben. Aber da war ich bei Aldous Huxley's "Brave New World" geschockter. Auch der gute Jules Verne hat n paar nette Ideen.
    Mein Punkt ist nur der: Cyberpunk ist eine wahrscheinliche dystopische Zukunft mit krassen Mensch/Maschine-Interfaces und Virtuellen Realitäten. DIESE zeichnen Cyberpunk aus. Für mich zumindest. Und DIE gibt's noch nicht wirklich. Steckt alles noch in den Kinderschuhen.
    Und soo schlimm ist das Leben jetzt auch wieder nicht für viele Leute. Klar, es gibt Gegenden, da möchte man nicht Leben, aber die gab es in der ganzen menschlichen Geschichte immer irgendwo. So im Gesamtkontext betrachtet.
    Und letztendlich noch eine Weisheit meines Profs: Niemals Korrelationen mit Kausalitäten verwechseln..
    Wünsche noch einen schönen, sonnigen Samstag. Auch ohne Robohühner ;-)

  2. daMax says:

    Hey, halt, Moment mal! Das soll jetzt aber nicht heißen, dass Du mit Deinem Blog aufhörst, oder? Ich meine, es ist natürlich doof, wenn einen das eigene Thema, das man eigentlich in der Zukunft angesiedelt hatte, einholt. Aber Du darfst trotzdem gerne weiterschreiben. Beschreib' eben die Gegenwart! Das machen andere ja auch  ;) Bloggen befreit.

  3. Chris says:

    @Martin: Danke für deinen ausführlichen Kommentar! (Der eine Link luppt wieder)

    Kurz mal hierzu: "Bisher hat noch keine Unternehmung ein Land übernommen" Wie nennst du dann das hier: http://doktorsblog.de/2009/09/24/turbokolonialismus-oder-madagaskar-was-war-das-noch/ oder das: http://doktorsblog.de/2009/02/09/cyberpunk-is-real-madagaskar-sold-out/ ?

    51% der Landmasse! Inkl Armee! 

    Die weiteren Punkte sind – wie du korrekt anmerkst – sehr schwammig. Aber denk mal andersrum: Du stellst Kriterien auf, nach denen deine fiktive CP-Welt im Roman funktioniert. Dann vergleichst du die Daten mit dem Ist-Zustand unseres Planeten…denke so herum ist auch der Artikel gemeint. 

    Und hier: "Environmental disasters" Dinos!??! JA! Aber doch nicht "made by themselfs!" DAS ist doch definitiv ein Unterschied, meinst du nicht auch?

    "Media-aware terrorism" Adolf? Komischer Vergleich. Wobei die Leitemedien schon nazihaft agieren, ab und an, ja.—–

    "Wahrscheinliche Zukunft" Nee, jetzt muss ich mal eben Einspruch erheben. Mir geht es (in diesem Falle) expliziert NICHT um den technologischen Fortschritt; eher um den Humanistischen Ansatz.  Und für ich ist das Leben zwar "schön", wenn ich aber an die Konsequenzen für mein "schönes" Leben denke, wir mir anders. 

    "iemals Korrelationen mit Kausalitäten verwechseln.."

    -> Der ist toll! Darüber denke ich nach. Später ;) 

    <

  4. Chris says:

    @Max: Klar blogge ich weiter. Es ging nur um den Roman. Den ich niemals fertig stellen werde, außer es wird in meiner Lebenspanne eine Zeitmaschine erfunden.  No Wörries! ;)

  5. Martin says:

    @Chris
    Das mit Madagaskar ist schon krass, das hatte ich vergessen. Tendentiell würde ich das aber unter Worst-Case-Beispiel für Korruption handeln. Ist nicht schön.
    Aber sowohl die Integration von ökologischen und sozialen Komponenten in den Kapitalismus ist ein schwerer und langwieriger Prozess als auch das Lösen von Nationalstaaten hinzu "globalem Handeln".
    Es ist schwer sich von Prinzipien der letzten 4000 Jahre zu lösen. Die globale Vernetzung fördert und erfordert aber genau das. Und auch hier ist es relativ klar, dass Unternehmen die Vorreiter sind, da diese eben nicht an Ländergrenzen gebunden sind. Der Trick ist es, das ganze kontrolliert ablaufen zu lassen. Ich weiss nicht, ob politische Systeme momentan – mit ihren kurzfristigen Relevanzzyklen von wenigen Jahren bis zur nächsten Wahl – dafür geeignet sind.
    Klar, das mit den Dinos habe ich mal in die andere Richtung überspitzt, eben um zu zeigen, dass die Beispiele zu allgemein sind. Ich hoffe, dass solche Dinge, wie der Bohrloch-Fuckup im Golf von Mexiko aber Lektionen sind, die einigen Leuten im Hinterkopf bleiben. Aus Fehlern lernt man und so. Eine bessere Alternative hat die Menschheit gar nicht. Es gibt kein "Von Terra zu Alpha Centauri in 100 Tagen" Manual. Leider.
    Naja, und was heisst "mein Leben ist schön"? Ich hätte da schon diverse Verbesserungsvorschläge, insbesondere in Bezug auf Kirche/Religion, Bildung, Regierung.. Und ich sehe auch das Potential, dass hier alles den Bach runtergeht, aber ich sehe auch das Potential für Verbesserung.
    Und es sind so Kleinigkeiten wie die Meldung vor einer Weile, dass auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz ein Panzer zurückblieb, der das dort entstandene einzigartige Ökosystem durch Spazierfahrten aufrechterhält, die mich immer wieder daran erinnern, dass alles zwei Seiten hat. Gute und Schlechte, und dass es im Leben häufig darum geht die richtige Balance zu finden.
     
     

  6. Per1000 says:

    @Chris:
    Einen Einwand hätte ich da noch: Ich glaube, da wir ja von etwas fiktiven wie Cyperpunk sprechen, dass jeder Autor bestimmte Anleihen aus der realen Welt ziehen muss und diese weiterentwickelt (siehe Steampunk).
    Darum kann die reale mit der fiktiven Welt nie deckungsgleich sein, auch nicht durch Zufall.  Und schön ist dabei auch, dass du sagst das die Fiktion die dich inspiriert in einer Fiktionsmaschine (Fernsehen) stattfindet. A
    lso die Konstruktion in der Konstruktion. Das einzige was passieren könnte ist, dass die Realität sich Anleihen aus der Fiktion holt. Walt Disney hat z.B. die Form der Rakete mitentwickelt. Trotzdem ist die Fiktion der Realität immer ein Stück voraus. Du kannst also getrost weiterschreiben.

  7. Blogsamen says:

    So geht es mir auch, nicht was es das Schreiben angeht aber so mit den Gedanken über die Zukunft und mit einigen Ideen! Neulich zum Beispiel dachte ich darüber nach, dass man einfach im Internet fragen könnte ob jemand einem bereit ist eine Million zu geben. Einfach so ohne Gegenleistung und so. Die Idee fand ich ja schon ziemlich irre und dachte nur, eh man geht eh net also ließ ich die Idee Fallen und spinnte nicht mehr rum. Was war? 2 Wochen später lese ich das die Idee ein Amerikaner hatte und per Video bei Youtube gefragt hatte ob jemand im eine Million gibt. Was war? Ja es hat sich laut seiner Aussage tatsächlich jemand gefunden. Verfolgt habe ich die Sache dann auch nicht mehr weiter, dachte nur tja du Denkst und jemand anderes machts einfach!
     

  8. Rlkng says:

    Hallo, schöner Blog! Ich finde um sich die Zukunft weiterhin als cyberpunkoeske Groteske auszumalen braucht es nicht viel. Es trifft zwar schon vieles ein was im frühen Cyberpunk als Zukunftsmusik skizziert wurde, allerdings belegt das doch nur, dass der frühe Cyberpunk schon damals nah dran war. Und die Möglichkeiten bestimmte Entwicklungen literarisch zu überspitzen und zu dramatisieren sind noch lange nicht ausgeschöpft. Da bieten die aktuellen Ereignisse nur kreativen Treibstoff. Ich blogge bei playsyndicate.de übrigens über Syndicate.

  9. Chris says:

    Hey Rlkng!

    Sehe ich auch so! Deinen Laden schau ich mir jetzt mal an ;)

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