Es hat einen Grund, warum ich gerade heute den vierten Teil meiner 'Lese/Anguck-Empfehlungen' raushaue. Weil mein (Buch-)Buddy Max eben auch mal was zum Lesen empfohlen hat. Hier nämlich: Existenzzitate. Klingt gut; werd' ich mir reinziehen.
Aber erst, wenn ich mit dem Buch Anarchismus – Begriff und Praxis von Daniel Guérin (Bild oben: Quelle: Untergrund) durch bin. Das ist nämlich ein Knaller. Ich sage euch auch warum: Der leider viel zu früh verstorbene Guérin geht endlich mal anders an die Standardwerke der großen Anarchisten ran: Der zitiert unglaublich viel; vergleicht dafür aber etwas weniger als üblich. Ob auf seine Abhandlungen dann noch eine eigene Anarcho-Idee folgt, kann ich noch nicht sagen; bin erst bei der Hälfte. Und schwer beeindruckt. Er rezitiert teilweise recht lange Textstellen von Proudhon, welche ich so noch nirgends gelesen habe. Hier mal eine davon; anschließend könnt ihr dann selber entscheiden, ob ihr eurem Kopf sowas antun wollt, oder lieber doch nicht. Los geht's:
Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingefpercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht, noch das Wissen, noch die Kraft dazu haben…
Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung versteuert, patentiert, notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.
Es heißt, unter dem Vorwand der Öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepresst, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden geschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, gehänselt, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral.
(Aus: Pierre-Joseph Proudhon, Idée générale de la révolution au dix-neuvième siècle (Garnier frères, 1851, p. 341)
Also meinen Nerv trifft es überhaupt nicht.
Kann sein, dass der Kontext des Zitat alles schön relativiert aber für mich ist das zu einseitig, unvollständig, negativ, unbegründet, extremistisch, lang … zu weit links.
Ihr dürft mir gerne den Kopf waschen aber für mich ist das resultierende Chaos auf dieser Seite der Weltanschauung gruseliger als das, was sich heute unsere Regierung schimpft.
Für mich ist totalitäre Freiheit wie Leben ohne Abhängigkeiten, nämlich tot.
Ich freu‘ mich über jeden Kommentar, auch wenn er meine Begeisterung für die – fast schon lyrisch-negative – Textpassage nicht teilt. Viel mehr aber interessiert mich, wieso “ die Idee der „totalitären Freiheit wie Leben ohne Abhängigkeiten“ für dich (unwiederbringlich?) gestorben ist…!?
Anarchismus ist stets nur eine temporäre Struktur der Ordnung. Je komplexer die Situation und je mehr Individuen vorhanden sind desto schneller geht der Übergang zu übergeordneten Strukturen. Das was wir als Regierung betrachten liegt in unserem ethischen und gesellschaftlichen System verankert, sozusagen unsere informellen Gene leiten uns.
Der menschliche Körper und die Gesellschaft die er erschafft benötigen Regierungen, der Starke regiert über die Schwachen, die Mehrheit über die Minderheiten, man kann es nennen wie man es will, um das überleben des einzelnen zu sichern hat sich der Mensch stets zu Gruppen zusammengeschlossen. Aus Gruppen entstehen ganze Gesellschaften und daraus Regierungen.
Die absolute Freiheit, die uns der Anarchismus suggeriert, ist stets ein Idealzustand im gedanklichem und körperlichem Dasein von Regeln und Dogmen. Eine Illusion eines Paradieses und einer Utopie für die es sich zu streben lohnt aber nie erreicht werden kann.
Damit ist der Staat das Konstrukt das unsere Überschüssige Energie aufnimmt die wir produzieren wenn wir mehr tun als nur zu Überleben.
Vorweg, ist das seit diesen Zwei-Punkt-Null nicht irgendwie out als Anarchist über die Regierung herzuziehen?
Warum absolute Freiheit unmöglich bzw. die Annäherung daran „unbequem“ ist?
Eigentlich ganz einfach allerdings habe ich nicht Wälzer darüber gelesen. Mein Rundum-Halbwissen habe ich ganz internet-like von Hie und Da zusammen geklaubt und natürlich die Quellen vergessen.
1) Menschen sind ungleich, werden sie immer sein.
2) Komparativer Vorteil. Durch Spezialisierung und Tausch kann ein Einzelner mehr haben, als er es alleine herstellen könnte, selbst wenn er es könnte.
3) Meliorisierung. Der menschliche Hang zur Verbesserung, die berühmten Schultern des Riesen.
Meiner Meinung nach ergibt sich daraus die stete Tendenz zu immer komplexeren Organisationsformen mit dichteren Verbindungen aus ungleichen Beziehungen, Hierarchien eben.
Ich meine damit nicht, dass Anarchie unrealistisch ist, eher, dass das Maß an Komplexität in einer fragmentierten, regionalen, modularen Gesellschaft eben nicht den heutigen Grad erreicht hätte.
(Mir kam gerade der Gedanke an militärische Organisation und das römische Reich …)
Übrigens habe ich vor ein paar Tagen erst erfahren, dass ich ein Panarchist bin ;)
http://de.wikipedia.org/wiki/Panarchismus
“ out als Anarchist über die Regierung herzuziehen?“ Hö? Verstehe ich nicht ganz. Was meinst du mit 2.0 und wieso soll das out sein? Wie schon Thoreau, empfinde auch ich „den Ungehorsam gegenüber dem Staat“ als oberste Bürgerpflicht! ;)
Sitz grad im Office, muss später erstmal „Komparativ“ und „Meliorisierung“ googlen, um dir dann etwas qualifizierter Antworten zu können…
Eins aber kurz vorab: ICH empfinde Anarchismus durchaus als unrealistisch; empfinde es eher als Utopie, auf dies Hinzuarbeiten lohnt. Bald mehr!
So. Ich habe nun drei mal versucht irgendwas weiter-qualifiziertes zu deinem Statement zu sagen @Transinfekt. Nur leider komme ich immer wieder an den Punkt: Du hast recht, wenn du sagst, dass es mannigfaltige Gründe gibt, warum eine anarchistische absolute Freiheit reine Utopie bleibt mit dem Evolutionsstand der heutigen Zeit zu und zu 99% auch eine solche bleiben wird. Dennoch – und das tangiert wieder meinen ersten Comment- : als Alternative Idee, mit MÖGLICHERWEISE „guten“ Randbedingungen“ empfinde ich die Anarchie als (letzte) große Hoffnung. Oder eben „als erste“ wenn man von der „erst muss der große Knall kommen“-These ausgeht.
Letzter scheint mir diese mit zunehmendem Alter als „immer wahrscheinlicher“; und auch – im Sinne unserer Nachkommen – als „am hoffnungsvollsten“…
„Der große Knall“ ist ein schöner Aufhänger und die Bezeichnung als Apokalypse dafür eigentlich zu pessimistisch.
Wenn man eine Stammesgesellschaft von der hedonistischen Seite betrachtet, denke ich, hätte sie mehr zu bieten als unsere heutige. Aber gleichzeitig wäre unsere Welt auch sehr viel kleiner und würde das auch bleiben bis zum nächsten Meteorit.
Auf der anderen Seite eröffnen moderne Technologien und Infrastruktur auch neue Entfaltungsmöglichekeiten, jenseits der meisten physikalischen Grenzen, (z.B. die virtuellen Räume) die aber mit einer Entfremdung von unserem Ur-Substrat einhergehen.
Alles eine Frage der Perspektive.
Heute kannst du glücklicherweise beide Lebensformen realisieren oder sogar mischen mit den Vor- und Nachtteilen von beiden.