‚Graswurzelrevolution‘ wird 40! (Oder: Die Anarchie und ich)

Spätsommer 1995 oder 1996. Irgendwo zwischen erster Pille, rosa Dreadlocks und einem toten Kurt Cobain. Ich. Verwirrt. Ob der Geschehnisse der Welt. Klammernd; an den eigenen Mikrokosmos. Erste eigene Bude, erste Drogenfreunde, erster Kontakt mit Staatsbeamten. Eine durchzechte Nacht mit den Jungs von der Domplatte. Alkohol, Pilze, Gespräche, alles. Gegen 11 Uhr morgens saß ich bei sonstwem in irgend ’ner  Messie-Bude. Keine Erinnerung wie ich dahin gekommen bin. Nette Leute; ziemlich bunt, mit auseinanderdriftenden Gesichtern (Pilze). Ich seh‘ mich um. Kein bekanntes Gesicht. Nur liebenswürdige Aliens und bunte Haare. Die Pfeife geht rum. Ich lechze, lehne aber die erste Runde ab. Nicht, weil keiner mehr so genau blickt, was da geraucht wird (Pilze?), sondern weil ich besseres zu tun habe. Ich lese. Und zwar nicht irgendwas. Sondern die Anarcho-Zeitung Graswurzelrevolution. Die lag da so rum; zwischen all‘ den knuffigen E.T.’s. In sanftem blau. So präsentierte sich das Cover zu der Zeit. Da stand was drin von Herrschaftslosigkeit, von Friede, und davon, dass das Übereinkommen über die nukleare Sicherheit des Planeten eh nur wieder so ein Getue sei. Dabei hatte ich mich doch schon so auf eine Welt ohne Atome gefreut (Pilze). Da stand drinne, dass in 20 Jahren keiner mehr von BSE spricht, und das Angstmache ein Teil des Systems sei, in dem ich (bis dato) lebte. Das erste Freundeskreis Album läuft im Hintergrund. Jemand versucht Gitarre zu spielen. Ich nehme die zweite Pfeifen-Runde an. Es ziemt sich, sitzenderweise irgendwas vor sich hinzurauchen. Das hatte ich schon bei Opa gesehen. 11 Uhr Morgens, …das Setting und alles…nach drei Artikeln, die ich in dieser verqueren, libertären Anarcho-Punk-Zeitung las, war ich Anarchist. Und bin es bis heute.

Mein Dank geht an dieses eine Alien mit den bunten Haaren. Dieses Alien hatte diese Graswurzelrevolution-Zeitung auf dem Tisch liegen. Und eröffnete mir damit im Alter von 15 (oder 16?) Jahren einen neuen Kosmos: Eine Welt ohne Herrschaft? Ohne Diskriminierung? Ohne stumpfsinnige Hierarchie? Ohne Militär und Kriege? Ja, das war was. Das gefiel mir. Zehn Jahre in unserem (menschenfeindlichen wie unnützen) Schulsystem hatten mir meinen Kopf (und die zugehörigen Gedanken) doch noch nicht vollständig weichgespült! An meine damaligen Gedanken kann ich mich nur wage erinnern (Pilze): Wenn es doch sogar eine ganze Zeitung zu so einem Thema gibt,…ja dann muss es doch sicher  auch abertausende Leute geben, die ähnlich freigeistig und zukunftsorientiert denken! – Die Naivität der Jugend. So war das. Und es war gut so. In den folgenden 15 Jahren las ich das Blatt; und lese es noch heute. Nie im Abo, sicher nicht alle Ausgaben, oftmals über Dritte bezogen; und als ich das erste und einzige mal in Berlin war, lag die neueste Ausgabe sogar in der Auslage eines linkischen Buchladens. Unfassbar! Revolution! Alles! Da war ich etwa 25 Jahre alt. Offensichtlich keinen Deut weniger naiv, als zehn Jahre zuvor.

Vielleicht muss ein Anarchist sich seine Naivität bewahren. Die Idee, dass (wenn auch in ferner Zukunft) ja doch noch mal alles gut wird, fühlt sich für mich richtig und gut an. Ich kann (und möchte) mir einfach nicht vorstellen, dass Die gewinnen (Die: CDU, Interpol, GEMA, Michael Schumacher. Ihr wisst schon).

Auch wenn ich sonst eher pragmatisch und realistisch orientiert bin, ist das kein Widerspruch. Ich glaube an wenig; vielleicht will ich aber die Idee des Humanismus (die für mich stark mit der Idee der Anarchie verkettet ist) gut finden, weil sonst eben nicht mehr viel über bleibt. Gott ist (und war damals) schon länger Tot, der dauerhafte Konsum von (harten) Drogen war keine Option; an Daunenjacken von Kik für 3€ habe ich noch nie geglaubt; und auch sonst befand sich sowohl mein Leben, – als auch das Schicksal des Planeten -,  zu der Zeit in gehöriger Schieflage. Was war also zu tun? Mit Anfang 20 dann endlich mal’ne anständige Ausbildung gemacht (Kaufmann), zuviele Graffitis gemalt, mich mit dem System zwar nicht angefreundet, durchaus aber arrangiert. Heute arbeite ich für einen Großkonzern. Und kann trotzdem gut schlafen. So ist das im Alter.

Meine gesunde Naivität habe ich mir erhalten. Auch wenn der Prozess nicht immer schmerzfrei war. DennDer Idealismus sollte mit den Jahren zunehmen. Und nicht – wie überall propagiert – abnehmen. Wie oft hört man Sätze wie: Ach, die wilden Jahre… Oder: Ach ja, damals dachte ich noch dass… Oder: Früher war ich dumm und naiv. Drauf geschissen. Du, ich, ihr, wir, die. Alle haben diese eine zeitliche Beschränkung. Auch wenn die heutige Zeit mit all‘ ihren Werkzeugen (Werbung, Medien, Politik, Religion, Chatroulette, etc) uns die ewige Jugend und das unendliche Leben im Sekundentakt versprechen möchte.

Ich liebe den Transhumanismus. Der hängt für mich ganz ganz eng mit der Idee der neuen Anarchie zusammen. Drauf verlassen (Mindupload, Aliens, whatever) will ich mich aber nicht. Deshalb möchte ich im Alter nicht sagen müssen: Hättest du mal was getan. Oder was gesagt. Ich habe nämlich (zumindest) was gesagt. Das hier zum Beispiel: Eine anarchistische Zeitung wird 40 Jahre alt und ich empfehle (nicht nur meinen Lesern hier) sich mal ein Probe-Exemplar zukommen zu lassen. Das Leben ist zu kurz, um Frau von der Leyens populäre Ideen vom Reichtum im Alter auch nur anzudenken. Oder dem Jauch zuzugucken, wie er das Internet kaputt reden lässt. Oder Oder Oder. Wir haben 2012. Es wird Zeit. Occupy, Wikileaks, Piraten, Anonymus. Wort, Zeichen, Bilder. Alles.

…und dann gibt es da noch diese eine Zeitung. Seit 1972.

Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Wir streben an, daß Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden. Schwerpunkte unserer Arbeit lagen bisher in den Bereichen Antimilitarismus und Ökologie. Unsere Ziele sollen – soweit es geht – in unseren Kampf- und Organisationsformen vorweggenommen und zur Anwendung gebracht werden. Um Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen wir gewaltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sinne bemüht sich die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln.

In einer Zeit, in der solche Headlines zur Tagesordnung gehören…

Bundeswehr will Häuserkampf auch für Inlandseinsätze trainieren

…bleibt nur zu sagen: Gönnt euch mal ein Abo: graswurzel.net

3 thoughts on “‚Graswurzelrevolution‘ wird 40! (Oder: Die Anarchie und ich)

  1. el-flojo says:

    Sehr guter Text. Muss ich mir morgen unbedingt nochmal in Ruhe durchlesen…

  2. Bernd says:

    Super! :-) Danke. Dürfen wir Deinen Text in der Graswurzelrevolution dokumentieren?

  3. Chris says:

    Hey Bernd! Na klar! ;) 

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